Bildung Gesundheit

Eigentlich wollte ich Lehrerin werden…

Eigentlich wollte ich Lehrerin werden...

Gastbeitrag von Anika

Wolkig mit Aussicht auf Viren

Eigentlich hätte ich ja fast keinen Grund mich zu beschweren:
als Hilfskraft an der Uni durfte ich meinen Job behalten, bekam sogar mehr Arbeit als sonst und damit keine Kurzarbeit, und konnte die meisten Kurse dank ausgezeichneter Arbeit meiner Dozenten absolvieren. Dozenten haben sich weit über die berufliche Pflicht hinaus über Gestaltungsmöglichkeiten von digitalen Vorlesungen informiert, diese getestet, sich mit anderen ausgetauscht und beruflich weiter entwickelt. Plattformen wie OLAT, der virtuelle Campus für Rheinland-Pfalz, laufen ohne Probleme und auch größere synchrone Online-Vorlesungen klappen dank Konferenz-Tools wie BigBlueButton super. Zumindest wenn sich die Dozenten Mühe gegeben haben – schwarze Schafe gibt es immer, in jedem Fachbereich und in jedem Beruf.
Also – warum schreibe ich diesen Artikel dann hier?

Ich bin in der Endphase meines Masters, habe nur noch einige Praktika vor mir. Die Uni reagiert “hart” und eigentlich gut auf die Covid-Entwicklungen. Sie hat es im Groben und Ganzen verstanden: Lieber etwas zu hart als zu weich. Aber auch hier gibt es Ungereimtheiten, die durch die aktuellen Meldungen, Schulen wieder öffnen zu wollen, Frust in mir hervorrufen. Ich müsste eigentlich seit Anfang Januar ein Praktikum mit zwei anderen Studenten machen. Beide arbeiten an einer Schule – aktuell also noch von zu Hause aus und haben damit aktuell ein geringeres Risiko infiziert zu sein als zum Beispiel Mitte Dezember. Dennoch sind die Praktika abgesagt – ich kann damit leben und es ist im Zuge des Infektionsschutzes okay.
Aber: Wie kann es sein, dass gleichzeitig im großen Hörsaal bis zu 100 Leute eine Klausur – ohne Maske – schreiben dürfen?
Auch Klausuren mit 20 Leuten in Vorlesungsräumen ohne richtige Fenster und funktionierende Lüftung finde ich unangemessen. Unabhängig davon, dass wir in einem großen Seminarraum, mit FFP2-Maske und dauerhaftem Lüften keinen Versuch mit nur drei Studenten durchführen dürfen. Jeder, der zurzeit studiert und keine Online-Klausuren schreiben kann (was ja durchaus zum Vorteil für alle Studenten sein kann, da diese vielleicht mehr Transfer-Leistung erfordern), der sieht sich gezwungen zwischen seiner persönlichen bzw. der Gesundheit der Liebsten und dem zügigen Abschluss eines Studiums zu unterscheiden. Dazu kommt erschwerend, dass bei einigen dieser Abschluss wiederum an den Lebensunterhalt durch BAföG oder Kindergeld gekoppelt ist.

Zu diesem Frust in meinem persönlichen Leben kommt folgende Problematik:
Morgens, wenn ich die Nachrichten checke, lese ich natürlich auch etwas über Covid-19 und die vielen damit bedrohten Schicksale. Menschen, die unter enormen Stress stehen, depressiv werden, unter den Folgen einer Ansteckung leiden oder gar sterben. Das sind die Nachrichten, die mich schockieren und mich dann aus meiner eigenen kleinen, halbwegs intakten Blase herausholen. Unnötig schlimme Schicksale, die man vermeiden kann, wenn man nur möchte…
Nur dazu müsste man wohl mal einen unbequemen Weg einschlagen oder vielleicht sogar ein paar Stimmen bei der nächsten Wahl riskieren.
Was könnte man denn alles machen?
Zu aller Erst könnte man sich einfach mal an die Empfehlungen von anerkannten Wissenschaftlern halten. Warum wird das ignoriert?

Ich wollte eigentlich Lehrerin werden, aber ich frage mich nun ehrlich:
Wozu soll ich Lehrerin im naturwissenschaftlichen Bereich werden, wenn die Wissenschaft doch sogar von Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz ignoriert wird?
Oder von der aktuellen Landesregierung?
Schulen und Kindergärten sollen wieder öffnen, dabei sind Kinder doch genauso ansteckend – auch wenn sie weniger Symptome zeigen. Ganz zu schweigen von etwaigen Langzeitfolgen, die man noch gar nicht abschätzen kann. Oder auch der Tatsache, dass mehr Ansteckungen mehr Mutations-Chance bedeutet – mehr Mutationen gleich mehr Risiko zu gefährlichen Folgen oder zu der Problematik eines nicht mehr wirkenden Impfstoffes.
Maßnahmen, die angeblich in Grundschulen eingehalten werden können, funktionieren in der Realität nicht. Kinder waschen sich seltenst wirklich gut die Hände und selbst wenn, haben sie ihre Finger oft genug im Mund – was ja ein natürliches Verhalten ist. Die Kinder können nichts dafür. Auch können teils die Lehrkräfte nichts dafür – einfach, weil sie gar keinen Überblick haben oder gar haben können, weil es ständig andere Regelungen und keine richtigen, effektiven Konzepte gibt. Gruppen in Grundschulen werden heute so gemischt und morgen so, ohne festes Schema – eine Problematik die jede Maßnahme ad absurdum führt. Zusätzlich dazu die gescheiterte Digitalisierung – damit sind dann auch die letzten Lücken im Bildungssystem aufgeflogen.

Doch natürlich gibt es nicht nur schwarz und weiß: Kinder, die von ihren Eltern nicht selbst betreut werden können, weil die Eltern beispielsweise im Krankenhaus arbeiten, oder Kinder, die aufgrund Gewalt, egal ob psychischer oder physischer, nicht zu Hause bleiben können, sollten einen Platz zur Betreuung bekommen – eine Notfallbetreuung eben. Das schamlose Ausnutzen mancher sollte aber unterbunden werden. Ja, ich stimme der Politik zu: Bildung ist ein Grundrecht und Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben. Doch ich sage auch: Tote Eltern behindern ebenso. Schüler, gerade mit Risikopatienten als Eltern, sollten sich nicht zwischen dem Schutz der Eltern und der Bildung entscheiden müssen.

Kann man jetzt irgendwelche Schuldzuweisungen treffen? Ich finde ja, wenn natürlich nicht verallgemeinernd. Auf der einen Seite ist natürlich jeder Einzelne, der trotz Krankheitssymptomen zur Arbeit geht oder nicht von sich aus den Minimalkurs fährt und die Kontakte vielleicht sogar unterhalb der Empfehlung reduziert, mit verantwortlich. Einkaufen kann man reduzieren – vielleicht nur noch einmal die Woche statt alle zwei Tage. Aber: Die Bürger, sind nur die ausführenden und die, die damit leben müssen und sich eben an den Empfehlungen orientieren. Damit ist auch klar: Nicht die Bürger sind hauptsächlich verantwortlich, sondern die Politik. Dies fängt an der Stelle an, wo über den Sommer keine Konzepte für digitalen Unterricht entwickelt wurden, sondern abgewartet wurde, um überraschend festzustellen, dass die Zahlen steigen. Man hätte sich einfach mit Universitäten auseinandersetzen können, wo es seit März teils sehr gut läuft. Oder bereits früher die Klassen teilen können – an vielen Schulen gab es dazu Konzepte, die von der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion, kurz der ADD, abgelehnt wurden. Ein früheres Klassenteilen wäre ja nicht nur für die mit Risikopatienten beruhigend gewesen, sondern hätte auch als Testanlass für digitale Konzepte genutzt werden können. Testphasen des Wechselunterrichts mit digitalen Wochen hätten den Übergang zu einem vollständig digitalen Unterricht erleichtert und vermutlich an einigen Stellen reibungsloser gestaltet und sogar verbessert.
Böse Zungen könnten behaupten: “Im Nachhinein ist man immer schlauer” – diese Aussage stimmt zwar, ist aber einfach unangemessen, weil eben die Vorschläge, Forschungsergebnisse und Konzepte da waren – es wurde sich einfach vor Verantwortungsübernahme gedrückt.

Die Schuldzuweisung und Verantwortung geht so weit, dass durch weiche Maßnahmen und Minimalkurse, Versuche der Rettung der Wirtschaft durch Umsatzsteigerung (statt wirkungsvollen Finanzspritzen und Regelungen) jeden Tag Menschen sterben, die nicht an Corona hätten sterben müssen. Für die kritischen unter den Lesern: Dabei ist es auch egal, ob sie mit oder an Corona sterben. Und es ist auch egal, ob die Toten noch ungefähr mit den Toten einer Grippe verglichen werden können, denn sie sind und bleiben unnötig – egal, wie die Rahmenbedingung ist. Sie sind mehr oder minder leicht zu verhindern und kommen ja zusätzlich zu den anderen Toten dazu. Ob diese Zahlen einfach zu abstrakt für viele nicht zu begreifen sind – ich weiß es nicht. Aber die Sorge vor dem Tod selbst nahe stehender Personen sollte eigentlich Anlass genug sein, sich so weit wie möglich zurückzunehmen, keine Ausnahmen zu machen und vielleicht für sich, seine Arbeitnehmer oder Schutzbefohlenen härter zu fahren als vorgegeben.

Es gibt natürlich noch viele weitere Aspekte. Zum Beispiel stellt sich auch hier die Frage: Ist nicht ein zweiwöchiger harter Lockdown (das, was in Deutschland als Lockdown geführt wird, ist ja fast schon lächerlich im Vergleich zu anderen Ländern!) besser als monatelanges “Wischi-Waschi-Getue”? Ein Lockdown in Mitte oder Ende November, für zwei bis drei Wochen, hätte das Weihnachtsfest erleichtert und die Sorgen entspannt. Auch hier das “hätte, hätte” – natürlich sind das keine Beweise, aber eben legitime Aussagen, wo wir jetzt glücklichweise mit einem blauen Auge davon gekommen sind – eben ohne enormen Weihnachts- und Silvesterpeak.

Als ich Kind war, hieß es immer “Vorsicht ist besser als Nachsicht” – irgendwie scheint die Politik diesen Aspekt mit anstehender Wahl und Lobbyismus vergessen zu haben. Im November wurde klar, dass die Zahlen steigen. Die Wissenschaft hat gewarnt und obwohl klar war, dass frühere Maßnahmen natürlich effektiver sind, wurden alle Ratschläge ignoriert oder hinausgezögert – Hauptsache das Weihnachtsgeschäft läuft noch so lange wie möglich. Ein anderes Beispiel: Die Schulen um jeden Preis eine Woche länger offen lassen – wofür? Für die eine Woche Bildung wo viele Kinder eh schon im Ferienmodus sind und kaum etwas läuft? Die Praxis sieht oft anders aus als die Theorie.

Zum Abschluss stelle man sich die Frage, wie viele Kinder ihre Eltern verloren haben – Kinder, die vielleicht schon selbst wieder Kinder haben. Mehr als 50.000 – das ist seit heute klar. Schon vor Weihnachten hätte damit die Devise sein müssen: “Das beste Geschenk ist nicht das, was unter dem Baum liegt, sondern das, was am Tisch sitzt”.

Wie geht es jetzt weiter? Für mich habe ich entschieden: Lehrerin zu sein ist ja eigentlich kein schlechter Beruf, ganz im Gegenteil. Aber ich möchte mich nicht zwischen Gefolgsamkeit (bei Schulöffnungen) und Gesundheit entscheiden müssen. Bildungs- und Pandemie-Politik müssen sich aber nicht ausschließen. Die Frage ist nur wie es umgesetzt wird:
Lieber kurz und effizient oder langwierig und langsam? Dieselben „Fehler“ werden erneut begangen. Dabei sind doch Fehler dazu da, um aus Ihnen zu lernen. Oder etwa nicht? Klare Regeln, die streng aber effizient sind, beugen zudem Missmut in der Bevölkerung und Politikverdrossenheit aufgrund von ewigem Hin- und Her vor. Ich appelliere an dieser Stelle an alle in verantwortungsvollen Positionen, einheitliche, strenge Kurse zu fahren und lieber einmal zu viel einzuschränken als zu wenig. Seien Sie nachsichtig mit Ihren Mitmenschen und üben Sie sich in Nächstenliebe trotz dieser schweren Zeit.